Alleen von Strassenzügen bestehend aus Gesichtszügen haben den Sommer zum Herbst gemacht und das Thurgauer Wahlvolk für Halloween angewärmt. Ich hatte also schon mehr als genug vom Thema “Selbstmarketing”, bis – ja bis – dann dieses Textli kam: https://schieflage.blog/reto/microgeschichte-aus-berlin
Der Mensch ist gross, klein, alt, jung,
schwarz, weiss, stark, schwach;
weiblich, männlich und viel(e) mehr;
er ist gut zu Fuss oder stützt sich auf;
hat abstehende Ohren oder ausladende Hüften;
schreibt mit links oder von oben nach unten;
ist weder zu viel noch zu wenig in einer Welt,
in der selbst zu viel oft nicht genügt.
Wie schön: Eben verstreicht der letzte Sommertag dieses Jahres und der Herbst zeigt sich von seiner güldenen Seite. Wie schön.
Und wie im Herbst die Blätter fallen, so fällt in Dürrenmatts Besuch der alten Dame das D aus “gülden” und übrig bleibt: die Wahrheit, nichts als die Wahrheit – die reine, dreckige Wahrheit.
Wir haben die Wahl, doch sind die Optionen opzön: Wenn Sympathie und Freund zu nicht-Antipathie, nicht-Angriff und nicht-Feind werden, verrichten niederste Triebe ihr bestes Werk. Bei Dürrenmatt – aber nicht nur bei ürrenmatt. D.
Das war meine persönliche insgeheime Replik auf Amanda Gormans Gedicht The hill we climb, das sie 2021 Joe Bidens Amtseinführung widmete. Das Beste, das Trump entgegenzuhalten war, sollte der tattrige Joseph „Joe“ Robinette Biden, Jr., Jahrgang 1942, sein? Ich kann das bis zum heutigen Tag noch nicht richtig glauben. Das Gedicht und sein Titel sind mir indes geblieben, bis heute.
Bis heute, da ich Christian Brönnimanns sehr geschickten Blogpost zum Thema “Spuren” las. Ihn las und bei mir dachte, dass ich mich an ähnlichem störe, aber auch an ähnlichem auf- und ausrichte sowie – aber das weiss ich nicht – ähnlichem nachspüre. Überhaupt ist es das Aufspüren und Nachspüren einer vergangenen und daher spurgewordenen Präsenz, die nährt, die aus dem physikalischen Hier und Jetzt eine Sehnsucht oder Spürsucht macht. Darin steckt Energie, dahinter womöglich Beute und somit das, was den Menschen lebendig hält, weil er das wahrnimmt, dem er nachspürt, indem er sich selbst wahrnimmt. Körperlich, nicht nur geistig und schon überhaupt nicht schöngeistig. Und erst recht nicht gleichgültig – vielleicht also das Gegengift zum “fuck we give”?
dwars nennt der Norddeutsche es in Anlehnung an die Matrosensprache, wenn etwas quer ist, windschief ist oder eben nicht im Lot. Land- (und See-!)läufig werten wir ja Gerades positiv sowie Schiefes negativ und das gab und gibt mir immer wieder zu denken. Ist es nicht gerade (sic!) das Schräge, das uns anzieht und das Kuriose, das Sich-der-Logik-Entziehende, das motiviert?
Es sind die Ränder der Ordnung, der Konzepte, an denen es magisch wird; dort, wo kein ordnender Fokus mehr wirkt und wo das Spiel der Dynamik seinen freien Lauf hat. Dort also, wo die ungezwungene Lebendigkeit in freier Wildbahn anzutreffen ist.
A propos “frei”: Vielleicht braucht es Queres bzw. Queeres, um den alten weissen Mann zu überwinden und zu echter Diversität zu gelangen, ohne dass es jemanden gibt, der den anderen ihre Plätze in “der” Gesellschaft zuweist.
Und sollte einmal die Schieflage in Schieflage geraten, so mag trösten:
ohne Dynamik keine Lebendigkeit, ohne Balance keine Dynamik und ohne Schieflage – ohne Disbalance – keine Balance.
Vielleicht ist es schön, vielleicht besonders, vielleicht sogar vielsagend. Was es nicht verrät, ist: Sein Erschaffer, der Maler Emil Nolde, war glühender Nationalsozialist. Das hat mich befremdet, denn nichts in seiner Kunst (die ich ehrlicherweise nicht in aller Vertiefung kenne) oder auch in Seebüll, dem Kleinod, das ihm Lebensort und seiner Kunst museale Heimat ist, lässt für mich darauf schliessen. Ob das nun schon schief ist oder erst schräg?
Diesen Satz habe ich neulich in einem Artikel über Arbeitsergonomie gelesen und mich gefragt:
Arbeite ich leidenschaftlich? – Check.
Leide ich oft? – Nö.
Zwei Möglichkeiten: Entweder stimmt das Behauptete gar nicht oder aber ich bin privilegiert. Ich bin für Letzteres. Denn ich habe mich schon früh geweigert anzuerkennen, dass man einen Grossteil seines Lebens im Modus einer Mühsal oder Beschwernis fristen muss. Dagegen liesse sich nun vieles einwenden: Bedingungen, Umstände, Möglichkeiten, Chancengleichheit. Und dann liesse sich trefflich dagegensetzen. Und so weiter.
Viel lieber ist mir: leidenschaftlich zu arbeiten – ohne zu leiden.
Wie schief soll die Schieflage sein? Und wessen Lage ist die schiefere? Keine Bange: Niemand sucht hier den schief-Chief.
Müsste ein Claim her (was er ja nicht muss), so wäre das vielleicht “lieber entstellt als verstellt” oder “querer als nur queer”. Zeig uns halt einfach, wer du bist und was dich inspiriert, ok? Niemand macht dir Vorgaben und wo die Reise hingeht, weiss auch nur dieser Niemand. Fest steht aber: Du allein kannst nicht Schieflage sein, das kann auch nur dieser Niemand. Denn Schieflage sind wir alle zusammen, die wir das unentrinnbare Schicksal haben könnten, (k)ein Mosaik der Vielfalt zu werden – das dafür aber ganz einmalig.